Dieser Versuch macht sprachlos

Es gibt einen Versuch, der so schrecklich ist, dass er die Bezeichnung «das verbotene Experiment» erhielt – gemacht wurde er trotzdem.

Das populärste Wolfskind: Mowgli aus dem «Dschungelbuch».

Das populärste Wolfskind: Mowgli aus dem «Dschungelbuch».

Welche Sprache spricht ein Mensch, mit dem während der Kindheit nie gesprochen wird? Spricht er überhaupt? Die Frage ist so bedeutend wie schwierig zu beantworten. Schon Pharao Psammetich I. soll sie im 7. Jahrhundert vor Christus beschäftigt haben. 1700 Jahre später faszinierte sie Stauferkönig Friedrich II. Gibt es die unveränderliche Ursprache, die ohne äusseres Zutun jeder Mensch spräche, wenn er von anderen abgeschnitten aufwüchse? Oder kommen wir als unbeschriebenes Blatt zur Welt und werden danach vollkommen von unserer Umgebung geprägt? Die Frage nach der Sprachentwicklung ist auch die Frage nach der Identität des Menschen: Natur oder Kultur, wer hat das Sagen?

Als Diktator konnte sich Psammetich erlauben, die Sache praktisch anzugehen. Im ersten Geschichtsbuch überhaupt berichtet Herodot über seinen Versuch, der als erstes überliefertes Psychologieexperiment gilt: Weil es Psammetich nicht gelang, auf herkömmlichem Weg herauszufinden, ob Phryger oder Ägypter die Welt als erste bevölkert hatten, beauftragte er einen Hirten, zwei Neugeborene isoliert aufzuziehen, ohne je ein Wort mit ihnen zu wechseln. Nach zwei Jahren soll ein Kind die Hände ausgestreckt und «bekos» gesagt haben, das phrygische Wort für Brot. In einer widrigeren Version der Geschichte verzichtete Psammetich auf den Hirten und übergab die Kinder Ammen, denen er zuvor die Zunge hatte herausschneiden lassen.

Ein ähnliches Experiment soll im 13. Jahrhundert Kaiser Friedrich II. durchgeführt haben. So ähnlich in der Tat, dass die Biographen des Kaisers vermuten, der Geschichtsschreiber Salimbene von Parma, der über den Versuch berichtete, habe sich von Herodot inspirieren lassen, um Friedrich zu verleumden. In seiner Version wollte Friedrich herausfinden, ob isolierte Kinder Hebräisch zu sprechen beginnen, die Sprache von Adam und Eva. Auch Griechisch, Lateinisch oder Arabisch kamen in Frage oder die Sprache der Eltern, denen sie weggenommen worden waren. Das Resultat des Versuchs war laut Salimbene schrecklich: Alle Säuglinge starben, «denn sie konnten nicht leben ohne das Händeklatschen und Winken, das fröhliche Lächeln und die Koseworte ihrer Ammen und Nährerinnen.»

Wie erfolgreich die Propaganda gegen Friedrich war, zeigt die Tatsache, dass sein Sprachexperiment bis heute in Zeitungsartikeln und Fernsehdokumentationen als Tatsache weiterverbreitet wird.

Auch Jakob IV. von Schottland und der Grossmogul Jalaluddin Muhammad Akbar sollen an ihren Untertanen Sprachentzugsexperimente vollzogen haben. Jakob mit dem erstaunlichen – und von ihm erwarteten – Resultat, dass die zwei Kinder, die er auf eine einsame Insel geschickt hatte, perfekt Hebräisch sprachen, als sie zurückkamen.

Die isolierten Zwillinge

Um die Frage der Sprachentwicklung ernsthaft zu klären, waren Forscher lange Zeit auf natürliche Experimente angewiesen, verloren gegangene oder ausgesetzte Kinder, die auf wundersame Weise ohne Kontakt zu Menschen in der Wildnis überlebten, sogenannte Wolfskinder.

Das berühmteste unter ihnen war ein etwa zehnjähriger Junge, der Ende des 18. Jahrhundert in einem Wald im französischen Département Aveyron aufgegriffen worden war. Weil der einzige Laut, auf den er reagierte, ein «o» war, wurde der Junge bald Victor von Aveyron genannt.

Victor konnte weder sprechen noch nachahmen. Er schlief am Tag, ass Eicheln, Nüsse und Kastanien und erkannte sein Spiegelbild nicht. Der Arzt Jean Itard nahm Victor auf und versuchte, ihm das Sprechen beizubringen – mit wenig Erfolg. Mehr als zwei Sätze hat Victor nie gelernt. Offenbar gab es in der Sprachentwicklung so etwas wie eine kritische Phase, die nicht nachgeholt werden konnte.

Victor von Aveyrons Schicksal war Vorbild für François Truffauts Film «L’enfant sauvage» aus dem Jahre 1970. Überhaupt boten Wolfskinder reichen Stoff für Literaten und Filmemacher. Am berühmtesten wurden Rudyard Kiplings Erzählungen von Mowgli, dem indischen Findelkind, das bei Tieren im Urwald aufwächst.

Darf man bei den Versuchen, die früheren Potentaten zugeschrieben werden, daran zweifeln, dass sie je stattgefunden haben, gibt es beim Versuch des Psychologen Wayne Dennis aus dem letzten Jahrhundert keinen solchen Trost. Das Experiment von 1932 wurde in der angesehenen Fachzeitschrift «Genetic Psychology Monographs» publiziert, unter dem Titel: «Kleinkindentwicklung unter eingeschränkter Aktivität und mit minimaler sozialer Anregung».

Wayne Dennis von der University of Virginia und seine Frau Marsena liessen sich vom Sozialdienst des Universitätsspitals Zwillinge vermitteln, die sie bei sich zu Hause aufnahmen. Eigentlich hatten sie nach einem einzelnen Kind gesucht, aber sie nahmen die beiden Mädchen, weil «sie uns die Verdoppelung der Anzahl Versuchspersonen erlaubten, ohne die Kosten oder die Betreuung zu verdoppeln», wie Dennis schrieb.

Del und Rey waren 36 Tage alt, als ihre Mutter sie dem Forscherpaar übergab. Dennis behauptete, sie sei über die Natur der Versuche informiert und damit einverstanden gewesen. Selbst wenn das wirklich stimmen sollte, war es letztlich die Not, die die Mutter zu diesem Schritt trieb. Als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern konnte sie nicht noch für zwei weitere sorgen.

Dennis wollte klären, ob sich die Kinder mit einem Minimum an Fürsorge und sozialen Kontakten normal entwickeln würden. Dazu hatte er im ersten Stock seines Hauses ein Zimmer für die beiden Mädchen eingerichtet, das einer Gefängniszelle glich: ein Tisch, zwei Stühle, eine Kommode und zwei Kinderbetten mit einer Stellwand dazwischen, damit sich die Kinder nicht sehen konnten. In diesem Raum hielten sich Wayne und seine Frau nur auf, um die Kinder zu wickeln, zu baden, zu füttern oder Versuche anzustellen. Tagein, tagaus lagen die Mädchen einfach nur da. «Wir achteten peinlich darauf, nicht zu plappern oder zu den Kindern zu sprechen, weil wir wissen wollten, ob solche Laute auch ohne Vorbild auftreten würden.» Trotzdem begannen die Säuglinge die Betreuer bald anzulächeln, so dass sich selbst hartgesottene Forscher zusammenreissen mussten, damit sie keine Gefühle zeigten, vor allem weil das Ehepaar Dennis im gleichen Haus sein eigenes Mädchen aufzog, das im gleichen Alter war wie die Zwillinge. «Gefühlsregungen zurückzuhalten war nicht einfach, zumal die Subjekte sehr ausdrucksstark waren.»

Nach 15 Monaten und 1800 Seiten Notizen erklärte Dennis das Experiment für beendet und gab Del und Rey ihrer Mutter zurück. Später lebten sie bei Verwandten oder in Heimen. Vor allem Del zeigte eine Verzögerung der Entwicklung, die Dennis jedoch auf eine unentdeckte teilweise Lähmung zurückführte, die nichts mit dem Experiment zu tun habe. Um Schlüsse über die Sprachentwicklung zu ziehen, war die Dauer des Experiments zu kurz. Obwohl Dennis ankündigte, Details zur späteren Entwicklung der Mädchen zu veröffentlichen, hat er dies nie getan. Heute ist klar, dass eine solche Vernachlässigung im Leben kaum ohne Spuren bleibt.

Wayne Dennis hing der damals gängigen Meinung an, der Reifungsprozess bei Kindern laufe nach einem festen Programm ab, das kaum äusseren Einflüssen unterworfen sei. Deshalb glaubte er daran, dass die Kinder keinen Schaden nehmen würden.

Später untersuchte er Kinder in iranischen Waisenhäusern, die ihn vom Gegenteil überzeugten. Bevor er 1976 als angesehener Psychologieprofessor starb, verurteilte er die Art Vernachlässigung, die er 45 Jahre zuvor Del und Rey hatte zuteil werden lassen.

Zehn Jahre im Wald: Konnte Victor von Aveyron sprechen?

Dieser Artikel stammt aus dem Magazin NZZ Folio vom August 2014 zum Thema "Im Wald". Sie können diese Ausgabe bestellen oder NZZ Folio abonnieren .

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Still Face Experiment – mangelnde Kommunikation mit dem Baby

Das still-face-experiment ist ein mittlerweile berühmtes experiment zu der frage, ob und wieweit ein kleines kind auf sozial kontakt reagiert. das experiment zeigt eindringlich, wie früh das kind schon genau begreift, ob das gegenüber mit ihm interagiert oder nicht. und welch verheerende folgen es haben kann, wenn das kind immer wieder ignoriert wird., das still-face-experiment: das kind, mit dem nicht kommuniziert wird.

In diesem Youtube-Video ist in Minuten im Kern das zu sehen, was später Menschen zur Inneren Kind Methode finden lässt: das Kind, das nicht gesehen wird. Das Kind mit dem nicht kommuniziert wird, so wie das Kind es braucht. Das Kind, das nicht geliebt wird.

Denn Liebe ist nicht nur ein Gefühl, Liebe ist vor allem auch Tat. Im Fall von Elternliebe, der bedingungslosen Liebe umso mehr. Die Mutter, der Vater müssen tun. Das Kind braucht nicht so sehr das Gefühl, das ein Elternteil selbst fühlt, sondern das, was dieses Gefühl die Mutter, den Vater tun lässt: das Kind sehen. Mit dem Kind in Kommunikation treten. Dem Kind geben, was das Kind braucht. Dem Kind das Leben zeigen, das schöne Leben, eine Kommunikation, die fliesst, die sich schön anfühlt – für das Kind. Und dem Kind beistehen, wenn etwas passiert, was für das Kind nicht gut ist, nicht schön. Immer in Beziehung sein mit dem Kind. In einer Beziehung, die sich für das Kind gut anfühlt, geborgen, sicher.

Das Gute, das Schlechte und das Hässliche

Oder im Original: the good, the bad and the ugly. Dr. Edward Tronick von der Harvard Universität, Direktor der Abteilung für Entwicklungspsychologie erklärt das Experiment.

Das Gute: eine glückliche Kindheit. Das Schlechte: ein kurzer Kommunikationsabbruch. Das Hässliche: eine gestörte Beziehung die andauert – das Trauma, das verletzte innere Kind.

Das Gute: die liebevolle Mutter, die mit dem Kind kommuniziert

Zuerst sehen wir die Mutter, die dem Kind zugewandt ist, die mit dem Kind spielt, die auf das Kind reagiert. Sie redet mit dem Kind, das Kind antwortet. Das Kind zeigt in eine Richtung, die Mutter sieht in diese Richtung. Mutter und Kind koordinieren ihre Kommunikation. Die Mutter sieht das Kind, das Kind sieht die Mutter, sie sprechen, sie sehen sich an, sie gestikulieren, sie lächeln, sie lachen gemeinsam. Das Kind ist glücklich. Die Mutter ist glücklich.

Das Schlechte: die Mutter, die nicht reagiert

Dann beginnt das Experiment. Die Mutter wird angewiesen, nicht mehr auf das Kind zu reagieren. Sie sitzt noch vor dem Kind, sieht ins Leere, agiert und reagiert nicht.

Das Kind reagiert sofort darauf. Es merkt die Veränderung sofort. Das Kind benutzt all seine Fähigkeiten, um die Mutter zurückzubekommen in die Kommunikation, in die Reaktion.

Das Kind lächelt die Mutter an. Die Mutter reagiert nicht. Das Kind zeigt wieder in eine Richtung, weil sie gewohnt ist, dass die Mutter darauf reagiert. Die Mutter reagiert nicht. Das kleine Mädchen macht einen Ton, bringt beide Hände in die Höhe, macht einen noch lauteren Ton, ist zunehmend unglücklich. Die Mutter reagiert nicht. Das Mädchen wird lauter, klatscht in die Hände, quietscht lauter. Die Mutter reagiert nicht.

Das Mädchen reagiert mit negativen Gefühlen, es wendet sich ab, es fühlt den Stress, es verliert die Kontrolle über seine Körperbeherrschung, wird zunehmend verzweifelt, windet sich im Stuhl. Das Mädchen beginnt bitterlich zu weinen.

Wieder gut: Ende des Still-Face-Experiments

An dem Punkt, an dem das Kind zu weinen beginnt, wird das Experiment beendet. Die Mutter wendet sich dem Kind wieder liebevoll zu. Das Kind sieht das sofort und spielt wieder mit der Mutter weiter. Es beruhigt sich sofort. Beide sind wieder glücklich.

Es ist kein Problem für das Kind, wenn das nur einmal kurz passiert und sich die Mutter (oder der Vater) dem Kind davor und danach liebevoll zuwenden, die Welt in Ordnung ist. Ein Kind kann verkraften, dass es kurzzeitig nicht “gut” ist, dass es “schlecht” ist.

Das Hässliche: die Mutter, der Vater die/der nie reagiert

Aber wenn das kurzfristig “schlechte” langfristig wird, beginnt das “Hässliche”. Wenn das Kind in der Verzweiflung, der Angst, dem Alleinsein, dem Nicht-Gesehen-werden stecken bleibt, beginnt das Trauma.

Diese Art von Trauma gibt es beispielsweise bei Kindern von depressiven Müttern/Vätern, insgesamt psychisch gestörten Eltern(teilen), die nicht im Stande sind, das Kind zu sehen, mit dem Kind zu interagieren, so wie es das Kind jeweils altersgerecht braucht.

Dieser Zustand der dauerhaft ist oder zumindest sehr lange oder oft wiederkehrend, ist traumatisch für das Kind. Das Kind kann so keine sichere Beziehung zu dem Elternteil entwickelt, keine gute, glückliche Beziehung zu anderen Menschen, zu sich selbst. Keine oder ungenügend Liebe zu sich selbst. Folgestörungen können Depression sein, Suchterkrankungen, Angststörungen und viele mehr.

Von einer hässlichen Kindheit zu einem guten Erwachsensein

Nach einer traumatischen Kindheit oder einer Kindheit mit traumatischen Erfahrungen, traumatischen Phasen ist es wichtig als Erwachsene diese Traumata zu bearbeiten, zu lösen, zu heilen.

Hierbei können verschiedene Methoden helfen. Besonders erfolgreich ist dabei EMDR, die zur Zeit bekannteste und in Fachkreisen verbreitetste Methode zur Traumaheilung.

Die jüngste Forschung und jahrzehntelange Erfahrung zeigt, dass Trauma auf der körperlichen, emotionalen und mentalen Ebene gespeichert sind. Und dass sie dort gelöst werden müssen, gleichzeitig.

EMDR bearbeitet das Trauma auf allen drei Ebenen gleichzeitig: körperlich, mental und emotional. Das ganze Setting der Methode ist so aufgebaut, dass es sehr tief und gleichzeitig effizient und langfristig hilft.

In Kombination mit der Systemischen Aufstellung kann EMDR oft besonders gut helfen, da EMDR das Trauma nur lösen kann, wenn die Person die traumatische Situation kennt und sich emotional und mental darin befindet. In Fällen wo die Person sich nicht oder nicht gut genug erinnern kann, kann diese Situation aufgestellt werden. In dieser Aufstellung kann dann EMDR zur Anwendung kommen. So kann die Aufstellung zu einer besonders effektiven Anwendung von EMDR beitragen.

Eine weitere sehr effektive Methode bei dieser Art von Trauma ist die Innere Kind Methode. Mit ihr lassen sich manche Traumata entdecken und lösen. Oft kann hier auch EMDR als Unterstützung Anwendung finden, weil die alleinige Anwendung der Inneren Kind Methode oft nicht ausreichend ist.

Andrea Hofmann: Traumatherapie mit EMDR, Aufstellung und Inneres Kind

Andrea Hofmann arbeitet in Berlin Neukölln und über Skype seit fast zwanzig Jahren mit vielen Menschen, die eine Variation dieser Art von Trauma haben. Menschen mit narzisstischen Eltern oder einem narzisstischen Elternteil, Menschen mit Borderline-Mutter/Vater, mit depressiver Mutter/Vater, mit Alkoholikereltern(teil) oder mit einem in ihrer Kindheit verstorbenen Elternteil und dem sich dadurch überforderten und dann abwendenden anderen Elternteil.

Es sind vielfältige Fälle, die verschiedene Facetten zeigen. Aber dahinter liegt immer der gleiche Kern: das Kind, das zuwenig Zuwendung, echte Liebe, echte Aufmerksamkeit, echte Kommunkation erfahren hat.

Und die Erwachsenen, die aus diesen Kindern heranwuchsen mit dieser inneren Leeren, der ungestillten Sehnsucht, endlich gesehen zu werden, endlich geliebt. Oft genug suchen sich solche Menschen wieder Partner*innen, die das Muster mit ihnen wiederholen, die sie wieder nicht sehen. Oder auch wenn die Partner*innen sie sehen, können sie die Leere nicht füllen, sie können die bedingungslose Liebe einer Mutter, eines Vaters zum Kind nicht geben. Oft scheitern Beziehungen daran, dass die Vergangenheit in die Gegenwart wirkt und die gegenwärtigen Personen die Vergangenheit nicht ändern können.

Im Coaching, in der Therapie kann das alles gesehen, bewusst gemacht und gelöst werden. Mit den richtigen Methoden und der speziellen Anwendung der Methoden zur Lösung dieser Traumata. Dann kann die Person fühlen und akzeptieren, dass die Vergangenheit vergangen ist. Sie ist in der Gegenwart und in der neu gefundenen Selbstliebe und im Glück, das sich einstellt, wenn das Trauma wirklich verarbeitet und gelöst ist – auf der emotionalen, mentalen und körperlichen Ebene.

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Szene aus dem Zeichentrickfilm "Das Dschungelbuch".

Wolfskinder

Die Geschichte "Das Dschungelbuch" erzählt vom Findelkind Mogli, das im Dschungel von Wölfen großgezogen wird. Auch im realen Leben gibt es Kinder, die ohne Kontakt zu anderen Menschen und ohne Sprache aufwachsen.

Von Wiebke Ziegler

  • 1800: Eine Kindheit ohne Worte
  • 1970er: Genie wuchs in Isolation auf
  • 1930er: Isabelle blieb sechs Jahre stumm
  • 1990er: Unter Hunden aufgewachsen

Was sagen Wissenschaftler zu solchen Fällen?

Eine kindheit ohne worte.

So genannte Wolfskinder wachsen ohne Sprache heran, zum Beispiel weil sie ihre Kindheit eingesperrt in einer Kammer zugebracht haben. Bis sie jemand findet, haben sie oft keine oder kaum Berührung mit anderen – und damit mit der Sprache. Die Versuche, diesen Kindern das Sprechen beizubringen, scheitern häufig. Manche lernen ein wenig zu sprechen, andere gar nicht.

1800 fanden Jäger in einem Wald nahe der Stadt Saint-Sernin in der Gegend von Aveyron in Frankreich einen verwahrlosten Jungen. Er war etwa zehn Jahre alt, trug bis auf ein zerrissenes Hemd keine Kleider am Leib und gab Tierlaute von sich.

Die Jäger brachten den Jungen zunächst in ein Waisenhaus in Saint-Affrique und wenige Monate später nach Paris , in ein Institut für taubstumme Kinder. Dort nahm der Chefarzt der Anstalt, Jean-Marc-Gaspard Itard, das Kind in seine Obhut und gab ihm den Namen Victor.

Itard sah es als seine Aufgabe, Victor an andere Menschen zu gewöhnen. Mit einfachen Übungen versuchte Itard, Victor die Sprache zu vermitteln. Der Junge sollte Laute und später auch Wörter nachsprechen. Trotz des täglichen Trainings lernte Victor nur wenige Worte. Itard war frustriert.

Babys lernen schnell, wie sie auf sich aufmerksam machen

Mit etwas mehr Erfolg lehrte er den Jungen zu lesen und zu schreiben . Er schrieb Buchstaben und Wörter auf Karten und erklärte Victor deren Bedeutungen. Victor lernte so Adjektive wie groß und klein, Verben wie trinken und essen, und Farben wie Rot und Grün. Er speicherte die Wörter sogar im Gedächtnis – und konnte diese auch später noch auswendig aufschreiben.

Fünf Jahre lang unterrichtete Itard den Jungen aus der Wildnis. Bis er die Geduld verlor und den Jungen aufgab. Er schaffte es nicht, ihm das Sprechen beizubringen. Victor wohnte bis zu seinem Tod in dem Heim für taube Kinder. Er starb mit 38 Jahren und blieb bis zuletzt stumm.

Zeichnung:Victor von Aveyron.

Victor lernte nie zu sprechen

Genie wuchs in Isolation auf

In den 1970er-Jahren entdeckten die Behörden in Los Angeles ein Mädchen namens Genie. Es war abgemagert, blass und wirkte für seine dreizehn Jahre geistig zurückgeblieben.

Der Vater hatte das Mädchen über zwölf Jahre in einem Zimmer gefangen gehalten. Tagsüber fesselte er sie nackt an einen Kindertoilettenstuhl, nachts an ihr Bett. Er fütterte sie, sprach aber nicht mit ihr. Genie hatte nur wenige Dinge zum Spielen. Ihr Fenster war durch einen Vorhang verhüllt. Der Vater verprügelte das Mädchen und schrie es immer wieder an.

Genies kognitive Fähigkeiten glichen jenen einer Zweijährigen. Neugierig und aufmerksam war sie dennoch. Schon nach einer Woche konnte sie einige Wörter sagen.

Ihr Zustand besserte sich in den Monaten darauf. Sie nahm zu und ging spazieren. Nach einem Jahr konnte sie andere gut verstehen, selbst sprechen konnte sie hingegen kaum. Ihr Wortschatz umfasste etwa hundert Wörter.

Acht Jahre lang untersuchte die Sprachwissenschaftlerin Susan Curtis Genies Fähigkeiten zu sprechen. Sie erzielte jedoch kaum noch Fortschritte.

Ihre Äußerungen waren ungrammatisch, das heißt, sie flektierte Verben falsch oder gar nicht und stellte die Wörter in ihren Sätzen in die falsche Reihenfolge.

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Wer taub ist, kann über Gesten kommunizieren

Unter Hunden aufgewachsen

1991 fanden Sozialarbeiter in der Ukraine die achtjährige Oxana. Sie lief auf allen Vieren und bellte. Sprechen konnte sie kaum. Ihre Eltern hatten sie draußen im Garten vergessen, als Oxana etwa drei Jahre alt war. Sie waren starke Alkoholiker und hatten das Verschwinden des Mädchens offenbar nicht bemerkt.

Oxana suchte Unterschlupf in einer Hundehütte – und lebte dort fünf Jahre lang. Der Hund sorgte für Oxana, brachte ihr Essen und wärmte sie.

Heute lebt Oxana in einem Pflegeheim für Menschen mit Behinderung. Sie kann kaum sprechen, mehr als einfache Sätze bringt sie nicht heraus. Auch mit anderen Menschen kommt sie nicht gut zurecht. Von den Schäden, die sie in ihrer Kindheit davongetragen hat, wird sie sich vermutlich nie erholen.

Ein ähnliches Schicksal ereilte einen Jungen namens Edik, dessen Eltern – ebenfalls Alkoholiker – nicht imstande waren, sich um ihren Sohn zu kümmern. Die meiste Zeit verbrachte Edik mit Straßenhunden.

1999 wurde der Vierjährige in einer Wohnung in der Ukraine gefunden. Er wurde in ein Waisenhaus gebracht, wo er langsam zu sprechen lernte. Mit sechs war er auf dem Sprachniveau eines Zweijährigen. Die Chancen stehen dennoch gut, dass Edik irgendwann vernünftig sprechen kann. Sein Sozialverhalten wird jedoch vermutlich immer gestört bleiben.

Viele Faktoren können ausschlaggebend dafür sein, ob ein Mensch zu einem späteren Zeitpunkt im Leben seine Muttersprache lernt. Möglicherweise hat es etwas mit dem Alter zu tun.

Sprachwissenschaftler gehen davon aus, dass es eine kritische Phase gibt, in der ein Mensch eine Sprache erwerben kann. Diese Phase reicht etwa von der Geburt bis in die Pubertät hinein.

Unklar ist, ob ein Mensch auch nach dieser Phase noch dazu in der Lage ist, eine Sprache zu erwerben. Isabelle war sechseinhalb, als sie anfing, sprechen zu lernen. Schon nach kurzer Zeit konnte sie Sätze bilden.

Genie und Victor waren doppelt so alt. Beide waren auch nach langem Training nicht in der Lage, richtig zu sprechen. Über einzelne Wörter oder Wortfolgen kamen sie nicht hinaus.

Die sozialen Umstände in der Kindheit können ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen. Genie war durch die jahrelangen Misshandlungen psychisch stark traumatisiert. Isabelle hingegen wuchs bei ihrer Mutter auf, wenn auch abgeschieden vom Rest der Welt. Oxana und Edik kannten nur das Sozialverhalten der Hunde, nicht aber das der Menschen.

Dass Isabelle sprechen lernte, kann damit zusammenhängen, dass sie von ihrer Mutter die Gebärdensprache gelernt hatte. Sie kannte zumindest eine rudimentäre Form von Sprache, wenn auch keiner gesprochenen. So konnte sie ihr Gebärdensprachwissen später auf die gesprochene Sprache übertragen.

Die Frage, ob es eine kritische Phase für den Spracherwerb gibt, werden Sprachwissenschaftler so schnell nicht eindeutig beantworten können. Denn solchen Forschungen geht immer ein tragisches Ereignis voraus – ein Kind, das von seinen Eltern misshandelt wird oder in vollkommener Isolation aufwächst.

Ein Baby im Arm der Mutter.

(Erstveröffentlichung 2013. Letzte Aktualisierung 08.06.2020)

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Quelle: WDR

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